Mauersegler by Poschenrieder Christoph

Mauersegler by Poschenrieder Christoph

Autor:Poschenrieder, Christoph [Poschenrieder, Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257606973
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-08-25T16:00:00+00:00


[113] 23

Erst entzündete sich ein gekapptes Nervenende am Beinstumpf, dann kam eine Infektion unklaren Ursprungs hinzu. Binnen dreier Tage war Wilhelm auf ein träges, schweres Stück Mensch reduziert, das kaum noch redete und nicht antwortete, wenn man es ansprach. Unser Dorfarzt, damals noch in nichts eingeweiht, erschien mehrmals und riet dringlich zu einer Einweisung. Welches so gut wie das einzige Wort war, auf das Wilhelm noch reagierte, und zwar ablehnend. Er verzog das Gesicht und hielt dem Arzt beide Handflächen entgegen. Der Arzt überließ es uns, Wilhelm zu überreden. Zu viert standen wir um ihn herum.

»Das ist ein schönes Krankenhaus«, sagte Heinrich, »man hat sogar Seeblick, als Patient erster Klasse.« Zur Antwort drehte Wilhelm bloß den Kopf in Richtung Fenster. Der See funkelte. Ich sagte, es ginge doch wohl nur darum, diese Infektion rasch in den Griff zu bekommen. Einige Tage, und er wäre wieder zu Hause. Wilhelm schnaubte verächtlich. Er hob die Hand mit dem ausgestreckten, zitternden Zeigefinger und zielte in einem langsamen Schwenk auf jeden, aber keinen Besonderen von uns. Kam mir vor. Dazu sagte er mehrfach etwas, was kaum zu hören war. Was sagt er, flüsterte Siegfried. Heinrich, der am nächsten dran [114] stand, hob die Schultern, ich ebenso. Dabei hatte ich durchaus verstanden. Man konnte es von den Lippen ablesen: To-des-en-gel.

Ein paar Stunden später kam ein Rettungsauto und holte ihn ab. Ernst fuhr im Wagen mit, wir drei in Siegfrieds Porsche.

»Wenn ich so ein Blaulicht hätte«, sagte Siegfried ein paarmal, »so ein Blaulicht.«

Wir machten einen gehörigen Wirbel auf der Station, bloß durch unseren Auftritt, so wie damals in der Kirche. Wilhelm erhielt ein Einzelzimmer mit Seeblick, wie erwartet, und wurde umgehend an alle möglichen Kabel und Schläuche gebunden. Der Chefarzt erschien, nachdem seine Sekretärin einen Strauß Blumen auf das Nachttischchen gestellt hatte (wir hatten so etwas natürlich vergessen), nickte uns huldvoll zu, besah sich alles, ließ seinen Oberarzt noch ein wenig an den Apparaten herumpegeln, tätschelte dem Patienten die Hand, sagte so etwas wie: Das kriegen wir schon wieder hin, und verließ den Raum unter abermaligem huldvollem Nicken. Ich sorgte dafür, dass Wilhelm sein Essen aus dem benachbarten Hotel erhielt und nicht aus der Krankenhauskantine. Siegfried stellte den Golfkanal auf dem Fernsehgerät ein.

Half alles nichts.

Die Infektionswerte explodierten innerhalb eines halben Tages. Sie brachten ihn auf Intensiv. Er lag im künstlichen Koma. Wir wechselten uns ab und dösten an seiner Bettseite. Er wachte wieder auf und brabbelte wirre Dinge. Wollte seine Golfschläger. Brachten wir. Wollte eine bestimmte Strickjacke. Brachten wir. Alles Mögliche, wir [115] brachten es. Wir warteten und hofften, dass er noch einmal zu uns zurückkäme. Darauf gewettet hätte niemand.

Aber Wilhelm war zäh. Nach ein paar Tagen nahmen sie ein paar der Messkabel und der Ver- und Entsorgungsschläuche weg, dann den letzten. Es konnte weitergehen. Nur wie? Ich besah mir das, auf der Fensterbank sitzend, und dachte: Siehst du, man kann mehr als einmal im Leben abgenabelt werden. Und jedes Mal bedeutet es dasselbe: Hier, bitte, hast du ein Leben, kümmer dich drum. Und nein, du wirst schon wieder nicht gefragt.



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